Mit seinem Urteil Latvijas Informãcijas un komunikãcijas tehnologijas asociãcija (EuGH, Urteil vom 4. Juli 2024 – C-87/23) beseitigte der EuGH einige Unklarheiten, die er selbst mit den kontrovers diskutierten Entscheidungen Gmina O. (EuGH, Urteil vom 30. März 2023 – C-612/21) und Gmina L. (EuGH, Urteil vom 30. März 2023 – C-616/21) sowie Gemeente Borsele (EuGH, Urteil vom 12. Mai 2016 – C-520/14) hervorgerufen hatte.
Dem o. g. EuGH-Urteil vorangegangen war ein Rechtsstreit zwischen einem lettischen Verein und der Finanzverwaltung. Der Verein schloss im Jahr 2016 zwei Verträge zur Durchführung von Aus- und Fortbildungsprojekten mit der zentralen Finanzierungs- und Vergabeagentur Lettlands ab. Gleichzeitig wurden Verträge zwischen dem Verein und den Empfängern der Aus- und Fortbildungsleistungen abgeschlossen. Finanziert wurden diese Projekte einerseits durch Beiträge des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und andererseits durch Beiträge der Empfänger der Aus- und Fortbildungsleistungen. Der Verein beauftragte dritte Unternehmen zur Durchführung der Schulungen, welche wiederum dem Verein ihre Leistungen einschließlich Mehrwertsteuer in Rechnung stellten. Diese machte der Verein als Vorsteuer geltend. Die Finanzverwaltung war der Auffassung, dass aufgrund der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht keine wirtschaftliche Tätigkeit i. S. d. Mehrwertsteuersystems vorliegt und versagte daraufhin den Vorsteuerabzug.
Dem EuGH wurden daraufhin u. a. folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
- Ist eine gemeinnützige Organisation, die durch EFRE-Mittel finanzierte staatliche Beihilfeprogramme durchführt, ein Steuerpflichtiger i. S. d. Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL, der eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt?
- Gehören die EFRE-Mittel als staatliche Beihilfe zur steuerpflichtigen Gegenleistung i. S. d. Art. 73 MwStSystRL?
Zur ersten Frage stellte der EuGH fest, dass im vorliegenden Fall die Ertragslage für die Unternehmereigenschaft ohne Bedeutung ist. NPO sind Unternehmer, wenn die Tätigkeit der NPO mit der „typischen Tätigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers“ aus demselben Wirtschaftszweig vergleichbar ist. Dies gilt auch dann, wenn sie (stark) defizitär ist.
Anders als in den o. g. Entscheidungen Gmina L. und O. sowie Gemeente Borsele stellte vorliegend der lettische Verein den Leistungsempfängern Kosten in Rechnung und trat nach außen mit eigenem Personal und als Erbringer der Aus- und Fortbildungsleistungen auf. In der Entscheidung Gmina L. hingegen war die polnische Gemeinde nicht selbst nach außen für das Angebot (Asbestbeseitigung) aufgetreten, hatte kein eigenes Personal eingesetzt, keine Neukunden gesucht und den Empfängern keine Kosten auferlegt. So lag es auch in der Entscheidung Gemeente Borsele, in der die Gemeinde als Endverbraucher der Personentransporte aufgetreten war und die Beförderungsleistung den Eltern von Schülern im Rahmen der Daseinsvorsorge zur Verfügung gestellt hatte.
Im vorliegenden Fall trat der Verein nach außen als Erbringer von Dienstleistungen der Aus- und Fortbildung oder als Organisation solcher Dienstleistungen in Erscheinung, der mit allen anderen auf demselben Markt tätigen Wirtschaftsteilnehmern vergleichbar ist, zu denen er somit in Wettbewerb tritt. Die vom Verein in Rechnung gestellten Aus- und Fortbildungsdienstleistungen fallen somit in den Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL.
Zur zweiten Frage führte der EuGH aus, dass es nicht erforderlich ist, dass die Gegenleistung für die Dienstleistung unmittelbar von deren Empfänger erbracht wird, sondern dass sie auch von einem Dritten erbracht werden kann. So sind Subventionen, die an einen Dienstleistungserbringer aus einem europäischen Fonds (EFRE) für eine konkrete Dienstleistung fließen, in die Bemessung der Gegenleistung einzubeziehen.
Auswirkungen auf die Praxis
Dass der EuGH für die Praxis noch keine vollends trennscharfe Abgrenzung bietet, wann eine „typische Tätigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers“ vorliegt, war zunächst zu erwarten. Es bleibt daher abzuwarten, ob der EuGH in Zukunft weiter ins Detail geht und Kriterien mit an die Hand gibt, wann Tätigkeiten einer NPO einer typischen Tätigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers entsprechen, oder ob er auf den jeweiligen Einzelfall abstellen möchte. Die Höhe des Entgelts darf aber bei dieser Prüfung (allenfalls) nur noch dann eine Rolle spielen, wenn dieses rein symbolisch oder ersichtlich (missbräuchlich) allein zur Erlangung des Vorsteuerabzugs erhoben wird.
Mit der Einbeziehung der EFRE-Mittel in die umsatzsteuerliche Bemessungsgrundlage macht der EuGH einmal mehr deutlich, dass öffentliche Gelder nicht automatisch echte (nicht steuerbare) Zuschüsse sind. So stellen sie ein zusätzliches Entgelt eines Dritten (= Entgelt von dritter Seite) dar, wenn sie für eine konkrete Dienstleistung fließen. Wir empfehlen daher immer zu prüfen, ob die Subventionen (z. B. bei Zuwendungsbescheiden) für eine konkrete Dienstleistung gezahlt werden oder ob sie unabhängig von einer bestimmten Leistung gewährt werden.
Gern unterstützen wir Sie bei Fragen rund um das Thema von unternehmerischen Tätigkeiten der öffentlichen Hand; sprechen Sie uns an!