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BGH V ZR 273/20 – Grundsatzentscheidung zu § 9 GBBerG – Oder: Wenn ein Bundesgericht das Rad neu erfindet!

Unter dem 26. November 2021 hat der BGH eine Grundsatzentscheidung von einiger Tragweite getroffen. Infolge dieser Entscheidung, die als Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung bezeichnet werden muss, sind die öffentlichen Aufgabenträger (unter anderem der Abwasserbeseitigung und Wasserversorgung) auch für die Grundstücksentwässerungsanlagen bzw. Wasserversorgungsanlagen zuständig, die bisher nicht als Teil der öffentlichen Einrichtung angesehen worden waren. Wohnungsgesellschaften und Wohnungsgenossenschaften richten sich jetzt mit weitreichenden Ansprüchen an die örtlichen Aufgabenträger.

18.01.2024
Rechtsberatung und Prozessfuehrung

9 Abs. 9 GBBerG ist inzwischen eine rechtsgeschichtliche Materie – könnte man meinen. Die Vorschrift datiert auf den 20. Dezember 1993. Der Bundesgerichtshof hat nun mit der Entscheidung vom 26. November 2021 die gesetzliche Vorschrift, die im Wesentlichen das Bestehen gesetzlicher Dienstbarkeiten sowie eine daran anknüpfende Entschädigung regelt, komplett neu interpretiert. Entschädigungsansprüche dürften zwar inzwischen verjährt sein, allerdings meinen in jüngerer Zeit vermehrt vor allen Dingen große Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften, aus der Entscheidung Ansprüche herleiten zu können, die die Kostenübernahme in Bezug auf die Sanierung der Altleitungen umfassen.

Im Instanzenzug hatte das zuständige Oberlandesgericht noch folgendes als Recht erkannt: „Die kraft Gesetzes entstehende Dienstbarkeit solle Energiefortleitungsanlagen sichern, die dem öffentlichen Interesse dienten, nicht aber einem Anschlussnehmer ein Entgelt dafür gewähren, dass sein Grundstück über ein ebenfalls ihm gehörendes angrenzendes Grundstück an die öffentliche Abwasserversorgung angeschlossen werde.“ Diese Sichtweise entsprach bisher der gängigen Lesart und war Grundlage für die Beantragung der Eintragung der entsprechenden gesetzlichen Dienstbarkeiten in das Grundbuch.

Der Bundesgerichtshof hat den Begriff der „Fortleitung“ nun maximal weit ausgelegt. Unter Zuhilfenahme von Nachschlagewerken, wie dem Brockhaus, kommt das Gericht zu der Erkenntnis, dass auch eine private Grundstücksentwässerungsleitung zur Fortleitung von Abwasser dient. Eine weitergehende juristische zum Beispiel am Gesetzeskontext oder am Gesetzeszweck orientierte Auslegung ist der Entscheidung des BGH erstaunlicherweise nicht zu entnehmen. Jedenfalls kommt der BGH zur Schlussfolgerung, dass § 9 GBBerG nicht nur Leitungen mit Durchleitungsfunktion umfasst (die im öffentlichen Interesse „eigentlich“ gesichert werden sollten), sondern auch Leitungen, die nur das einzelne Grundstück entsorgen, in dem sie liegen oder eben auch sog. Sammelleitungen (Rdnr. 9 der Entscheidung).

Die Entscheidung erstaunt – dürfte im Widerspruch liegen zur herrschenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Begriff der öffentlichen Einrichtung und dürfte in näherer Zukunft für Streitstoff sorgen. Warum der BGH sich veranlasst fühlte, die Rechtsprechung zu § 9 GBBerG auf diese Art und Weise zu novellieren, ist nur schwer nachvollziehbar. Es kann nur gemutmaßt werden, dass möglicherweise das Gericht schlichtweg eine neue Richtung einschlagen wollte, um ein Zeichen zu setzen und auch möglicherweise, um wahrgenommen zu werden. Objektiv sachliche Gründe für die Rechtsprechung sind jedenfalls nicht erkennbar. Die Entscheidung dürfte als „Ausreißer“ anzusehen sein.

Anwaltlich ist zu empfehlen, die Rechtsfolgen, die sich vermeintlich aus der Entscheidung ergeben, nicht anzuerkennen. Entscheidungen des BGH haben keine Gesetzeswirkung. Es erscheint sinnvoll, bei sich jetzt anbahnenden Rechtsstreitigkeiten notfalls erneut den Rechtsweg zu beschreiten und darauf zu spekulieren, dass der BGH in neueren Verfahren die Entscheidung V 273/20 revidiert.

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