Mit seinem Urteil vom 22. Juli 2015 (V R 23/14) stellt der BFH unter ausdrücklicher Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung und entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung strengere Anforderungen an die Rechnungspflichtangabe „vollständige Anschrift“.
16.11.2015
Danach ist der Vorsteuerabzug aus Eingangsrechnungen zu versagen, die als Anschrift des leistenden Unternehmers einen „Briefkastensitz“ ausweisen, der lediglich der postalischen Erreichbarkeit des Leistenden dient.
I. Hintergrund
Eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung muss nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG u.a. die vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers enthalten. Fehlen die für den Vorsteuerabzug erforderlichen Rechnungsangaben i.S.d. §§ 14, 14a UStG oder sind sie unzutreffend, besteht für den Leistungsempfänger kein Anspruch auf Vorsteuerabzug.
II. Einzelheiten des Urteils in Kürze
Das Merkmal „vollständige Anschrift“ in § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG setzt nach aktueller Rechtsprechung des BFH Folgendes voraus:
- Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers, unter der er seine wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet. Die bloße postalische Erreichbarkeit unter einer Anschrift und damit die seitens der Finanzverwaltung zulässige Angabe eines Postfachs (vgl. Abschnitt 14.5 Abs. 2 S. 3 UStAE) genügt diesen Anforderungen nicht (mehr).
- Der in der Rechnung angegebene Sitz des leistenden Unternehmers muss bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungsstellung tatsächlich bestanden haben.
- Der den Vorsteuerabzug begehrende Leistungsempfänger trägt hierfür die Feststellungslast. Er hat sich über die Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu vergewissern.
Zudem hat der BFH klargestellt, dass bei fehlender oder falscher Anschrift ein Vorsteuerabzug im Festsetzungsverfahren auch nicht auf Gutglaubensschutzgründe gestützt werden kann. Der gute Glaube könne das fehlende Tatbestandsmerkmal „vollständige Anschrift“ nicht ersetzen. Vielmehr könne Vertrauensschutz nach nationalem Recht nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme (§§ 163, 227 AO) gewährt werden.
III. Auswirkungen auf die Praxis in Kürze
Der Vorsteuerabzug ist nach Auffassung des BFH nur noch zulässig,
- wenn der Leistende auf der Rechnung seinen tatsächlichen Firmensitz angibt, d.h. unter der angegebenen Anschrift im Zeitpunkt der Rechnungsausstellung tatsächlich geschäftlich aktiv ist, und
- der Leistungsempfänger die angegebene Anschrift daraufhin überprüft hat.
Dazu, welche Prüfungshandlungen der Empfänger ergriffen haben muss, äußert sich der BFH nicht. Angesichts dieser unklaren Lage und der Tatsache, dass der Leistungsempfänger sich auf die Angabe einer Steuernummer bzw. USt-IdNr. – selbst bei Bestätigungsabfrage – allein nicht berufen kann, ist künftig mit einer zunehmenden Anzahl von Streitfällen in der Betriebsprüfungspraxis zu rechnen. In jedem Fall empfehlen wir, die unternehmensinternen Kontrollmaßnahmen der Eingangsrechnungen zu prüfen. Gern sind wir Ihnen insofern behilflich, um das Risiko der Versagung des Vorsteuerabzugs einschließlich des damit verbundenen Zinsrisikos zu minimieren.
Zudem sollten Vertrauensschutzaspekte bereits im Rahmen der Steuererklärung vorgetragen werden, um die Entscheidung im Billigkeitsverfahren mit derjenigen im Festsetzungsverfahren zu verbinden und sicherzustellen, dass die Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers in Bezug auf die Rechnungsangaben des Leistenden Berücksichtigung findet.
IV. EuGH als Ausweg?
Ergänzend weisen wir darauf hin, dass der Rechtsprechung des BFH eine kürzlich veröffentlichte Entscheidung des EuGH (Urteil vom 22. Oktober 2015, C-277/14) entgegensteht. Darin sah der EuGH trotz eines Scheinsitzes die formellen und materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug als gegeben an. Dem Vorsteuerabzugsrecht stehe weder entgegen, dass der im Handelsregister angegebene Gesellschaftssitz in einem heruntergekommen Zustand sei, der jegliche wirtschaftliche Tätigkeit unmöglich mache, noch dass die als Geschäftsführer eingetragenen Personen für die Finanzverwaltung nicht erreichbar waren.
Der EuGH hat festgestellt, dass der Vorsteuerabzug bei Rechnungen, die alle Rechnungsvoraussetzungen (einschließlich einer Steuernummer) enthielten, zu gewähren sei, wenn der Leistungsempfänger nicht wusste oder wissen konnte, dass er mit seinem Eingangsumsatz in eine Steuerhinterziehung seines Lieferers oder anderwärts in der Lieferkette einbezogen war, wobei der Steuerpflichtige gewisse Vorkehrungen zu treffen habe.
Abschließend bleibt somit abzuwarten, ob der BFH angesichts der aktuellen Rechtsprechung des EuGH seine Auffassung ändert. Bis dahin sollten betroffene Unternehmer jedoch Vertrauensschutz noch während einer etwaigen Prüfung geltend machen.
Mit Urteil vom 21. Juni 2018 hat der BFH unter Bezugnahme auf das EuGH-Urteil vom 15. November 2017 seine Auffassung geändert und die Anforderungen an eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung erleichtert. Lesen Sie dazu hier.
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Sören Münch, Steuerberater
Dr. Kerstin Bohne, Rechtsanwältin