Der BGH befasste sich mit der Geschäftsführerhaftung wegen Insolvenzverschleppung gegenüber sog. Neugläubigern. Er entschied, dass der Geschäftsführer auch für Schäden von Gläubigern haftet, die erst nach seinem Ausscheiden in vertragliche Beziehungen zu der Gesellschaft getreten sind, wenn er zuvor durch seine pflichtwidrig unterlassene Insolvenzantragsstellung eine Gefahrenlage geschaffen hat, die noch im Zeitpunkt der Schadensentstehung fortbesteht.
I. Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin nahm die Beklagte als Alleinerbin des früheren Geschäftsführers von vier Vertriebsgesellschaften einer Unternehmensgruppe auf Schadensersatz wegen Insolvenzverschleppung (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO), wegen sittenwidriger Schädigung (§ 826 BGB) und aus Delikt wegen Betrugs (§ 823 Abs. 2 i. V. m. § 263 StGB) in Anspruch.
Als das Geschäftsmodell der Unternehmensgruppe in Schieflage geriet, wurde ein Schneeballsystem etabliert und über mehrere Jahre betrieben. Schließlich brach das System zusammen. Der Erblasser stellte allerdings keine Insolvenzanträge und verschleppte damit die Insolvenzen. Erst ca. zwei Jahre nach seiner Abberufung und der Übernahme durch einen neuen Geschäftsführer wurden die Insolvenzanträge für die Vertriebsgesellschaften (ebenfalls verspätet) gestellt. Der frühere Geschäftsführer verstarb kurz vor der Eröffnung der Insolvenzverfahren und die Alleinerbin trat per Gesamtrechtsnachfolge in seine Rechtsposition ein.
Die Klägerin hatte insgesamt vier Anlageverträge mit zwei Vertriebsgesellschaften geschlossen, davon drei vor der Abberufung des Erblassers als Geschäftsführers, den vierten danach.
Das Berufungsgericht hatte entschieden, dass der Klägerin gegen die Beklagte, als Alleinerbin des Erblassers, ein Anspruch auf Schadensersatz für alle vier Anlageverträge wegen der damaligen Verletzung der Insolvenzantragspflicht durch den Erblasser zusteht. Der BGH bestätigte diese Entscheidung mit seinem Urteil vom 27. Juli 2024 – II ZR 206/22 – dem Grunde nach, verwies die Sache jedoch im Hinblick auf fehlende Feststellungen zur Höhe der Forderung an das Berufungsgericht zurück.
II. Entscheidungsbegründung des BGH
Der BGH stellte zunächst fest, dass im Fall der Gesamtrechtsnachfolge nach § 1922 BGB auch die beweis- und darlegungsrechtliche Position des Erblassers auf den Erben übergeht, sodass es im Rahmen der streitgegenständlichen Schadensersatzansprüche weder auf die eigene Kenntnis noch auf die eigenen Erkenntnismöglichkeiten der Beklagten als Erbin ankommt, sondern nur auf diejenigen des Erblassers.
Der BGH entschied weiter, dass die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche im Zusammenhang mit dem Abschluss sämtlicher Anlageverträge – einschließlich des erst nach der Abberufung des Erblassers als Geschäftsführer geschlossenen vierten Vertrags – als von dem der Klägerin (als sog. Neugläubigerin) von der Beklagten zu erstattenden Schaden umfasst anzusehen sind.
Zur Begründung führte er aus, dass die Haftung eines ausgeschiedenen Geschäftsführers wegen Insolvenzverschleppung nicht grundsätzlich auf vor seiner Amtsbeendigung entstandene Schäden beschränkt sei.
Mit der Beendigung der Organstellung entfielen zwar die Organpflichten des Geschäftsführers und damit auch seine Insolvenzantragspflicht nach § 15a Abs. 1 InsO. Bereits begangene Antragspflichtverletzungen würden durch den Fortfall der Organstellung aber ebenso wenig rückwirkend beseitigt, wie die Verantwortung des Geschäftsführers für darauf zurückzuführende Verschleppungsschäden. Damit hafte der aus dem Amt ausgeschiedene Geschäftsführer gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO grundsätzlich auch für Schäden von Neugläubigern, die erst nach seinem Ausscheiden in vertragliche Beziehungen zu der Gesellschaft getreten sind, wenn die durch seine Antragspflichtverletzung geschaffene Gefahrenlage im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch fortbesteht und damit für den Verschleppungsschaden (mit) ursächlich geworden ist. In diesem Fall müsse er sich den entstandenen Schaden als Folge seiner unterlassenen Antragsstellung zurechnen lassen. Die erst nach dem Ausscheiden des Geschäftsführers aus dem Amt mit der Gesellschaft geschlossenen Verträge seien noch vom Schutzzweck, der ihm während der Dauer seiner Organstellung obliegenden Insolvenzantragspflicht, erfasst. Das Verbot der Insolvenzverschleppung diene insofern nicht nur der Erhaltung des Gesellschaftsvermögens, sondern habe auch den Zweck, insolvenzreife Gesellschaften mit beschränktem Haftungsfonds vom Geschäftsverkehr fernzuhalten, damit durch das Auftreten solcher Gebilde nicht Gläubiger geschädigt oder gefährdet werden. Dieser Schutzzweck bestünde auch nach der Beendigung der Organstellung des Geschäftsführers nach seiner Antragspflichtverletzung unverändert fort.
Dass für einen neuen Geschäftsführer ebenfalls eine Haftung wegen Verletzung der Antragspflicht bestünde, lasse die Mitursächlichkeit der ursprünglichen Antragspflichtverletzung durch den ausgeschiedenen Geschäftsführer und den damit bestehenden Zurechnungszusammenhang nicht entfallen. Denn die haftungsrechtliche Zuordnung werde nicht dadurch ausgeschlossen, dass außer der in Rede stehenden Verletzungshandlung noch weitere Ursachen zur Rechtsgutsverletzung beigetragen haben. Dies gelte auch dann, wenn die Rechtsgutsverletzung erst durch das (rechtmäßige oder rechtswidrige) Dazwischentreten eines Dritten verursacht wird. Der Zurechnungszusammenhang fehle in derartigen Fällen zwar, wenn die zweite Ursache – das Eingreifen des Dritten – den Geschehensablauf so verändert hat, dass die Rechtsgutsverletzung bei wertender Betrachtung nur noch in einem „äußerlichen“, gleichsam „zufälligen“ Zusammenhang zu der durch die erste Ursache geschaffenen Gefahrenlage stehe. Wirkten in der Rechtsgutsverletzung dagegen besondere Gefahren fort, die durch die erste Ursache gesetzt wurden, könne der haftungsrechtliche Zusammenhang nicht verneint werden. Insoweit sei eine wertende Betrachtung dahingehend geboten, ob das vom Erstschädiger geschaffene Risiko schon gänzlich abgeklungen ist. Der Schädiger könne sich regelmäßig nicht damit entlasten, ein anderer habe die von ihm geschaffene Gefahrenlage pflichtwidrig nicht beseitigt. Der bloße Wechsel in der Person des Geschäftsführers als solcher, stelle keine den Zurechnungszusammenhang unterbrechende Zäsur dar; die Frage, ob einer der Geschäftsführer dem Schaden bei wertender Betrachtung näherstehe als der andere, sei nur für ihren Ausgleich im Innenverhältnis von Bedeutung.
Im Ergebnis bejahte der BGH mit dieser Begründung eine Haftung des Erblassers nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO auch für den nach seiner Abberufung geschlossenen vierten Anlagevertrag der Klägerin und sprach der Klägerin einen Schadensersatzanspruch gegen die Alleinerbin des früheren Geschäftsführers zu.
III. Ausblick
Die Entscheidung zeigt einmal mehr, wie gefährlich es für Geschäftsführer ist, einen Insolvenzantrag zu verschleppen. Selbst die Beendigung der Organstellung schließt – wie der BGH in der Entscheidung deutlich herausstellt – das Haftungsrisiko nicht aus. Geschäftsführern ist es daher dringend anzuraten, ihre Insolvenzantragspflichten genau zu kennen und stets im Blick zu haben sowie in Krisensituationen die Liquiditätslage der Gesellschaft laufend zu überwachen, um sicherzustellen, dass beim Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung rechtzeitig ein Insolvenzantrag gestellt wird. Die Haftungsansprüche für Insolvenzverschleppungen sind – unabhängig von zusätzlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeiten – für Geschäftsführer schon aufgrund ihrer Höhe potenziell existenzbedrohend. Da die Einstandspflichten von D&O-Versicherungen im Hinblick auf Insolvenzverschleppungshaftungen häufig in den Vertragsbedingungen eingeschränkt werden, empfiehlt sich für Geschäftsleiter auch eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Versicherungsbedingungen. Zu beachten ist auch, dass eine Entlastung durch die Gesellschafterversammlung eine Haftung des Geschäftsführers gegenüber Gläubigern wegen Insolvenzverschleppung nicht ausschließt.
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